Marc Hairapetian und Irmin Schmidt (Foto: Spirit - Ein Lächeln im Sturm).
 

Irmin Schmidt reads SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM (Foto: Marc Hairapetian)

Es müssen nicht immer 
Jubelakkorde sein 

Der Kampf der Stile, der ein 
gemeinsames großes Ganzes 
gebären kann, geht auch nach 
CAN weiter: Irmin Schmidt – 
Filmmusik Anthology Vol. 4 & 5 

Ein Porträt von Marc Hairapetian

 

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„Man soll nicht zum Publikum herabsteigen. Man soll es sich zu sich heraufholen.“, hat der Schauspieler und Regisseur Klaus Maria Brandauer einmal gesagt. Bei Irmin Schmidt ist das immer wieder passiert, einmal sogar im wörtlichen Sinn. Wir schreiben das Jahr 1967. Der damals 30jährige Schmidt, der wenig später mit dem nicht gerade bescheidenen Anspruch, die verschiedenen Musikstile des 20. Jahrhunderts in sich zu vereinen, die revolutionäre Gruppe CAN gründen wird, gibt als Pianist ein Konzert in Heidelberg. Auf der Bühne stehen zwei Flügel. Einer davon ist mit Schrauben und Radiergummis zwischen den Seiten versehen, denn das Programm beinhaltet an jenem denkwürdigen Tag auch Stücke für präpariertes Klavier. Jenes wird im Flügel gezupft gespielt. Als Schmidt, der Stockhausen- und Ligeti-Schüler, bei einem John-Cage-Stück mit einem kaputten Remington-Rasierapparat die Bassseiten „bearbeitet“ und ihnen dabei diabolische Geräusche entlockt, stürmt ein entrüsteter Mittvierziger wutentbrannt das Podium. Er ohrfeigt Schmidt, schlägt ihm den Rasierer aus der Hand -und den Klavierdeckel zu. „Soviel Leidenschaft, um Klaviere in Schutz zu nehmen!“, erinnert sich Irmin Schmidt heute amüsiert, „diese Art zu musizieren hat ihn beleidigt. Es war für ihn der Untergang des Abendlandes. Doch er hat wenigstens reagiert.“
Dabei hat der am 29. Mai 1937 in Berlin geborene Irmin Schmidt nie das Bedürfnis gehabt, musikalisch zu provozieren: „Ich wollte immer nur Kunst machen.“ Und dies mit dem Credo, auf anspruchsvolle Weise zu unterhalten. Seit jeher verweigert er sich als Musiker und Komponist dem hierzulande praktizierten Schubladendenken. Mit Begrifflichkeiten wie Klassik, Rock, Jazz, Elektronik, Folkkore oder Weltmusik kann er wenig anfangen – und dennoch sind all diese Stile in der Kombination miteinander Bestandteile seines gewaltigen Schaffens. Als Mitinitiator und Tastenspieler von CAN wird er im öffentlichen Bewusstsein allgemein assoziiert. Sein Einfluss auf die internationale Popszene ist groß. So berufen sich Bands wie Sonic Youth auf CAN als Vorbild. Dabei wird häufig außer Acht gelassen, dass Irmin Schmidt einer der renommiertesten und zugleich ungewöhnlichsten deutschen Filmmusikkomponisten ist. 
Begonnen hat diese Tätigkeit mit Karl Hamruns Teenagerdrama „Zwei wie wir... und die Eltern wissen von nichts“ (1966). Es kam dann zur intensiven Zusammenarbeit mit Regisseuren wie Reinhard Hauff („Messer im Kopf“, Endstation Freiheit“, „Der Mann auf der Mauer“) oder Klaus Emmerich („Rote Erde I & II“, diverse „Tatort“- und „Reporter“-Folgen). So wie man den Sound eines Ennio Morricone („Spiel mir das Lied vom Tod“, „Der Clan der Sizilianer“) oder Maurice Jarre („Lawrence von Arabien“, „Doktor Schiwago“) heraushört, erkennt man bei aller Vielseitigkeit immer auch die kompositorische Handschrift eines Irmin Schmidt, der schon mit CAN Filmmusikgeschichte schrieb – allem voran als im Abspann genanntes Inner Space Project mit einem rhythmisch vorwärts treibenden, psychedelischen Soundtrack zu Tom Toelles visionärer Mediensatire „Das Millionenspiel“ (1970), die das heutige Privatfernsehen mit seiner Sensationsgier und Quotengeilheit vorwegnahm. Unter dem Namen CAN sollten Musiken zu dem mit John Moulder-Brown, Jane Asher und Karl-Michael Vogler hochkarätig besetzen Pubertätsdrama „Deep End“ (1970, Regie: Jerzy Skolimowski), zum Durbridge-Straßenfeger „Das Messer“ (1971), zu Samuel Fullers „Tatort“-Ausflug „Tote Taube in der Beethovenstraße“ (1972) oder zu Wim Wenders´ Roadmovie „Alice in den Städten“ (1973) folgen. 
35 Jahre später schloss sich ein Kreis, als der im Auto sitzende Irmin Schmidt bei einer Fahrt durch Südfrankreich, wo er seit Jahren mit seiner Frau Hildegard wohnt, einen Anruf bekam: „Jetzt bist du dran!“ tönte es ihm am anderen Ende der Leitung entgegen. Es war der ansonsten so sanfte Wim Wenders, der ihn ohne wenn und aber als Komponisten für seinen neuesten Film „Palermo Shooting“ (2008) abkommandierte. Die Aufgabenstellung für das Psychodrama, in dem die Geschichte eines äußerlich zwar erfolgreichen, innerlich aber von Ängsten und Unruhe geplagten Fotografen erzählt wird, war nicht einfach: Der von Campino, dem Sänger der Düsseldorfer Punkband Die Toten Hosen, überraschend überzeugend verkörperte Finn knallt sich in der ersten Stunde der Spielzeit fast unentwegt Popmusik von Velvet Underground über Fabrizio De André bis zu Portishead in den Schädel, die laut Wenders „schon ausgewählt worden war, bevor es überhaupt ein Drehbuch gab“. Ausgerechnet durch die Begegnung mit dem Tod (eine Paraderolle für Hollywood-Ikone Dennis Hopper) kann er sich wieder dem Leben zuwenden. Finns psychisch-seelische Veränderungen spiegeln sich auch in Irmin Schmidts orchestralem Soundtrack wieder, der in Auszügen mit anderen ausgewählten Kompositionen der Jahre 1998 bis 2008 auf der Warner-Music-Doppel-CD „Filmmusik Anthology Vol. 4 & 5“ vorliegt. 
Beim ersten Hören mutmaßt man vielleicht, dass Irmin Schmidt hier mehr auf atmosphärische Klänge als auf herkömmliche Melodik setzt. Doch der Schein trügt: Als Grundlage für das „Flavia Theme“, welches die von Giovanna Mezzogiorno interpretierte Madonna Annunzita (Maria der Verkündung) musikalisch charakterisiert, diente das „Erbarme dich!“ aus Bachs „Matthäus-Passion“, welches hier in einer Variation herb und lieblich zugleich auf dem Akkordeon gespielt wird. Später wird in dem Stück „Tears“ die Melodie von einem Cello aufgegriffen. Irmin Schmidts Filmmusiken sind voller Melodien, doch er bedient sich dabei nicht der Melodik des 19. Jahrhunderts, was heute noch unter vielen Filmkomponisten üblich ist. Musikalischen Zuckerguss gibt es bei ihm nicht. Zart können seine Scores trotzdem klingen. So wie in der Arbeit für Hans W. Geissendörfers Drama „Schneeland“ (2004), indem er bei „Aaron“ kontrapunktisch mit zwei Melodien operiert. Die eine ist mit jüdischem Flair versehen und für Bassflöte komponiert. Ein Saxophon spielt darum „herum“ eine ausschweifende Melodie. Von seiner sehnsuchtsvollsten Seite präsentiert sich Irmin Schmidt bei zwei Episoden der Fernsehserie „Bloch“ (2002 – 2008). Der vom schwergewichtigen Dieter Pfaff mitunter fast leichtfüßig interpretierte Psychotherapeut ist ein sensibler Erforscher der menschlichen Seele. Irmin Schmidt ist es auch - mit „Verlorene Liebe“ (aus „Bloch 8 – Der Freund meiner Tochter“), einem Walzer der anderen Art, und dem fast ungreifbaren „Lied vom Verschwinden“ („Bloch 14 – Bauchgefühl“) . Ein Höhepunkt dieser Anthologie ist das „Geisterlied“ aus Markus Fischers Psychothriller „Ich werde immer bei euch sein.“ Sibelius, John Cage und Der Plan lassen grüßen. Und dennoch ist es ein unverwechselbares Musikstück von Irmin Schmidt. 
„Einfache Melodien finde ich doof.“, sagt Irmin Schmidt unverblümt, „Deswegen werden sich einige Filmproduzenten auch nie an mich wenden, weil die hinter vorgehaltener Hand sagen: ‚Der Schmidt macht so schwierige Musik!´ Stimmt nicht, doch die dicke Musiksoße über den Film auszukippen, empfinde ich sogar als anti-melodisch. Es müssen nicht immer nur einfach nachvollziehbare Dur- oder Jazzakkorde sein, wo alle einem zujubeln.“ Jubelakkorde sind sein Fall also nicht. Dennoch wird Irmin Schmidt in der Branche gerade von Regisseuren, die oftmals 20, 30 oder gar 40 Jahre jünger als er sind, hochgeschätzt. „Intensive Kollaborationen“ wie mit Stephan Wagner („Der Stich des Skorpion“, „In Sachen Kaminski“, „Bloch“) bevorzugt er. Die dunklen Seiten von Irmin Schmidts filmmusikalischen Welten sind allerdings mittels traditioneller Harmonielehre nicht mehr darstellbar, sondern eher in einem bedrohlichen An- und Abschwellen von Tönen wie in „Strange Luck“ aus „Palermo Shooting“, dem mit geheimnisvollem Frauensprechgesang unterlegten verschleppten Rhythmusteppich in „Dangerous“ aus „Paparazzo“ (2006) oder dem knapp siebenminütigen Track „Letzte Prüfung“, in dem sich Irmin Schmidt bei seinem Lehrer, dem Avantgarde-Komponisten György Ligeti, verneigt. Ausschnitte aus dessen Werken fanden in den weltberühmten Filmen des perfektionistischen Kinomagiers Stanley Kubrick Verwendung: Ob „Lux Aeterna“, „Atmosphères“ oder „Requiem für Sopran, Mezzosopran, zwei gemischte Chöre und Orchester“ in „2001 – Odyssee im Weltraum“ (1968), „Lontano“ in „The Shining“ (1980) oder „Musica ricercata“ in „Eyes Wide Shut“ (1999).
Der vor zehn Jahren verstorbene Kubrick hätte höchstwahrscheinlich auch seine Freude an Irmin Schmidts Kompositionen gehabt. David Lynch könnte sie noch haben. Die Freunde gehobener Filmmusik dürfen jedenfalls gespannt sein, was der schöpferische Output Irmin Schmidts noch zu Tage fördert. Es sei denn, er ist wieder zu sehr mit dem Schreiben von Opern, Ballettmusiken und räumlichen Klanginstallationen beschäftigt. Oder mit der Vorbereitung zur in Kooperation mit dem Filmmusikstudiengang der Filmakademie Baden-Württemberg stehenden Filmmusikgala anlässlich der Ludwigsburger Schlossfestspiele 2010, bei denen Irmin Schmidt eigene Werke dirigieren wird: „Ich bin auf der Bühne immer sehr entspannt.“, sagt er lachend, „Ich spiele den Leuten gerne was vor. So war ich vor Publikum auch immer ein besserer Pianist, als wenn ich im stillen Kämmerlein musiziert habe.“ Hoffentlich schlägt Irmin Schmidt niemand den Taktstock aus der Hand... Wie dem auch sei: Der Kampf der musikalischen Stile, der dennoch ein gemeinsames großes Ganzes gebären kann, geht in jedem Fall auch nach CAN weiter!

Marc Hairapetian