Tuan O’Toole

 

Abgründiger Edelmensch und liebenswerter Grenzgänger: Zum 70. Geburtstag des irischen Schauspielers Peter O’Toole

 

Von Marc Hairapetian

Peter O´Toole ist " Lord Jim" (1964)

„Die Rolle des Helden gefällt Ihnen wohl?“ fragt „Papa Stein“ (Paul Lukas) in Richard Brooks’ 1964 entstandener Literaturverfilmung „Lord Jim“ den jungen Tagelöhner, der gerade todesmutig einen Brand auf dem mit hochexplosiver Ladung versehenen Boot des 70jährigen Geschäftsmannes löschen konnte. Als dieser stumm bleibt, fügt Stein hinzu: „Es dürfte sie vielleicht interessieren, dass manche Männer niemals Helden werden. Und manche Helden niemals Männer.“ Mit dem trotzig-naiven Charme der Jugend entgegnet Jim (Peter O’Toole): „Aber manche haben das Glück beides zu werden.“ Stein blickt seinen Gegenüber mit gütiger Nachsicht an: „Wer sagt Ihnen, dass die glücklich sind?“ Peter O’Toole ist beides geworden. Seine langjährige Leinwand- und Bühnenkarriere hat ihn durch alle Höhen und Tiefen des Schauspielerberufs geführt. Nach dem kometenhaften Aufstieg als „Lawrence von Arabien“ (1962) folgten wohlausgewählte Filmrollen, in denen der irische Weltstar seine darstellerische Vielseitigkeit eindrucksvoll unter Beweis stellen konnte. Ab Anfang der 70er Jahre nahm er aber auch teilweise Angebote minderer Qualität an, „um meine Miete zu zahlen“. Seine Alkoholsucht kostete ihm fast das Leben. Doch Totgesagte leben länger. Comeback auf Comeback folgte. Heute weiß Peter O’Toole, der am 2. August seinen 70. Geburtstag feiert, dass „Glück nur in Momenten spürbar“ ist.
Immer wieder ist über den Mann, dessen wasserblaue Augen und der leidende Zug um den Mund zu erotischen Markenzeichen geworden sind, zu lesen, er sei der ideale Verkörperer nahezu „übermenschlicher Helden“. Dies mag vielleicht auf O’Tooles blendendes Aussehen in jungen Jahren zutreffen, seine Charakterierungskunst ist allerdings alles andere als eindimensional, denn ganz im Gegenteil sind fast alle seine Figuren ambivalente, tragische, ja, gebrochene Heroen, die sich bei allem Streben nach dem Wahren, Schönen und Guten mit ihren allzu menschlichen Unzulänglichkeiten auseinanderzusetzen haben und genau an diesem Konflikt scheitern. In diesem Sinne ist wohl neben „Lawrence von Arabien“ die lange Zeit unterschätzte, jetzt endlich zu recht als philosophischer Abenteuerfilm gefeierte Joseph-Conrad-Adaption „Lord Jim“ seine wichtigste Kinoarbeit.
Als unheilbarer Romantiker und Idealist träumt O`Toole hier als junger britischer Seeoffizier Jim an Bord der „Patna“ von heldenhafter Bewährung. Doch im Augenblick der Bedrohung versagt er: Als das Schiff im Sturm leck schlägt und zu sinken droht, besteigt er zusammen mit der Besatzung in Panik das einzige Rettungsboot und überläßt die 900 moslemische Pilger umfassende Passagierschar ihrem Schicksal. Wie durch ein Wunder werden alle durch ein französisches Schiff gerettet. Doch Jim, dessen feige Kameraden untertauchen, stellt sich den Behörden. In Schande entlassen, trägt er schwer am Verlust des Seemannspatents und seiner persönlichen Ehre. Er schlägt sich jahrelang durch die gefahrvolle Welt des malaiischen Archipels, aufrechtgehalten nur von „einer Hoffnung, die alle Menschen haben, ob reich oder arm, stark oder schwach“, denn so fragt im auch formal meisterlich gestalteten Prolog der als Erzähler fungierende Kapitän Marlow (Jack Hawkins): „Haben wir nicht alle Gott schon um eine zweite Chance gebeten?“
Im Auftrag des herzkranken Kaufmanns Stein gelangt er zur entlegenen Handelsstation Patusan, wo ein Despot, den man „General“ (Eli Wallach) nennt, ein Schreckensregiment führt. Im erfolgreichen Kampf zur Befreiung der Eingeborenen wächst Jim über sich hinaus. Durch Tapferkeit und Edelmut gewinnt er das Vertrauen der Bevölkerung, die ihn gottähnlich als „Tuan Jim“ („Lord Jim“) verehrt, und die Liebe einer Frau (Daliah Lavi). Der Schatten der Vergangenheit aber verläßt ihn nicht. Als der Pirat „Gentleman Duncan Major Brown“ (James Mason), dessen Schicksal Jim an sein eigenes erinnert, mit seiner Bande Patusan bedroht, verhandelt er mit dem Schurken anstatt zu kämpfen. Er wird so schuldig am Tod einiger Eingeborener. Jim übernimmt die Verantwortung und wird von Häuptling Du-Ramin (Tatsuo Saito), der durch Browns Raubzug seinen Sohn verloren hat, erschossen.
Kurz vor der selbstbestimmten Hinrichtung versucht „Papa“ Stein seinen Zögling von dem folgenschweren Vorhaben abzubringen. Vergeblich. Jim blickt seinem freiwilligen Tod gefaßt entgegen und relativiert den eigenen Helden-Status: „Ich bin ein sogenannter Feigling gewesen und auch ein sogenannter Held... Ich glaube, Feiglinge und Helden sind nur Menschen, die im Bruchteil von Sekunden etwas ungewöhnliches tun. Ich habe mir noch nie so sehr gewünscht, zu leben. Ich hatte niemals soviel Angst vor dem Tod. Bitte retten Sie mich nicht, aber helfen Sie mir. Helfen Sie mir das zu tun, was ich zu tun habe. Wir wissen beide, was es ist. - Ich begreife nicht, warum alles so gekommen ist. Du tust etwas falsches, und es fängt an. Du lügst Dir etwas vor, und das ist falsch. Und wenn die Dinge ins Rollen kommen, nehmen Sie ihren Lauf. Keiner kann sie aufhalten, bis Sie alleine ihr Ende finden. Und es zu bedauern, das ändert nichts und macht’s auch nicht wieder gut. Es ist nicht wichtig, was man tut, sondern warum man es tut.“
„Lord Jim“ wird von Peter O’Toole mit scheuem Lächeln gespielt. Oft wirkt er fast rührend in seiner Hilflosigkeit, bis seine beinahe kindliche Naivität plötzlich grosser Tatkraft, die aus körperlicher Geschmeidigkeit und geistiger Schärfe erwächst, weicht. Manchmal hat der Betrachter das Gefühl, als ob der titelgebende Hauptakteur fast nachtwandelt, als ob eigentlich alles, was um ihn herum geschieht, ihn kaum etwas angeht und er nur von einer unsichtbaren Macht seinem Ende entgegengetrieben wird. Dann wiederum geht ihn alles etwas an, bezieht er das Leid der ganzen Welt auf sich. „Lord Jim“, der von O’Tooles eigener Filmgesellschaft „Keep“-Films an Originalschauplätzen in Hongkong und Kambodscha produziert und anläßlich der alljährlichen Londoner „Royal Performance“ uraufgeführt wurde, wirft eine Vielzahl psychologischer Fragen auf. Die zentrale lautet: Ist Heldenmut bestimmt von Ehrgefühl, innerer Größe oder handelt es sich nur um „eine Form des Wahnsinns, die durch Eitelkeit hervorgerufen wird“ (Major Brown)? Der Film ist ein rundum gelungener Versuch, Joseph Conrads bahnbrechenden Roman in atmosphärischer Pracht und mit einem außerordentlichen Darstellerensemble heraufzubeschwören. Regisseur Richard Brooks („Die Brüder Karamasow“) schrieb auch das exzellente Drehbuch. Fotografie (Frederick A. Young, der schon bei „Lawrence von Arabien“ die 70mm-Superpanavision-Kamera führte) und Musik (Bronislau Kaper, der fernöstliche Folklore in seinem symphonischen Score integrierte) sind atemberaubend. Der Star ist jedoch eindeutig Peter O’Toole, dessen schauspielerische Sensibilität sich frappant mit der Feinnervigkeit Jims deckt (an dieser Stelle gebührt ein besonderes Lob Sebastian Fischer, der in der deutschen Fassung O’Toole einfühlsam synchronisierte). Die Mischung aus Charisma und Introvertiertheit, Weichheit und Entschlossenheit, absoluter Identifikation mit einer Rolle und ewiger Jugendlichkeit ist von je her nur wenigen Schauspieler zu eigen. Peter O`Toole gehört zu jenen raren Ausnahmedarstellern, die unterschiedlichsten Charakteren Leben einhauchen und trotzdem immer „sie selbst“ sind.
Der im irischen Connemara als Sohn eines Buchmachers geborene Peter Seamus O`Toole zog mit seinen Eltern 1944 nach Leeds, wo er in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs. Ab dem 11. Lebensjahr besuchte der damals tiefgläubige Katholik eine von Nonnen geleitete, strenge Konventschule. Die Schulschwestern versuchten den damals schon baumlangen Burschen (er mißt 1,90 Meter) seine Linkshändigkeit mit dem Rohrstock abzugewöhnen: Noch heute kann er zwei Dutzend Narben an der linken Hand vorweisen. Nach zahlreichen Aushilfejobs landet O’Toole als Reporter bei den „Yorkshire Evening News“, wo er vier Jahre blieb. Dann riet man ihm Schauspieler zu werden - sein dramatisches Talent war dem Chefredakteur schon bald aufgefallen. Eine Theaterbesuch in Stratford-upon-Avon, wo er sein Idol Michael Redgrave als „King Lear“ sah, ließ ihn die Empfehlung in die Tat umsetzen. Er bestand die Aufnahmeprüfung für die Londoner Schauspielschule. Zu seinen Mitstudenten gehörten u.a. Albert Finney, Alan Bates und Richard Harris. 1955 bekam er ein Engagement bei der Bristol Old Vic Theatre Company, wo er drei Jahre lang über 50 Bühnenrollen spielte - darunter einen „Hamlet“, von dem besonders Laurence Olivier angetan war. Der Durchbruch kam 1959 am Londoner Royal Court mit dem Antikriegsstück „The Long, the Short and the Tall“. Man kürte den erst 26jährigen zum „Schauspieler des Jahres“. Die ersten Leinwandauftritte hatte O’Toole dann neben Anthony Quinn im „Land der langen Schatten“, in der Robert-Louis-Stevenson-Verfilmung „Entführt - Die Abenteuer des David Balfour“ und dem SW-Thriller „Bankraub des Jahrhunderts“ (alle 1959).
Der entscheidende Durchbruch als Filmschauspieler gelang ihm mit David Leans monumentalem Wüstenepos „Lawrence von Arabien“ (1962). Anstelle von Marlon Brando, Alec Guiness oder Laurence Harvey erhielt O’Toole die Rolle des bei einem Motoradunfall ums Leben gekommenen T. E. Lawrence, der Soldat, Archäologe, Abenteurer, Sprachgenie und Schriftsteller („Die sieben Säulen der Weisheit“) in Personalunion war und in der Zeit des I. Weltkriegs den Aufstand der zuvor uneinigen Araber gegen die osmanische Oberherrschaft organisierte. Schöner als O’Toole ist wohl nie ein Weißer durch die Wüste geritten. Kühner hat niemand mit seinen arabischen Brüdern Attacken gegen die türkische Eisenbahn geritten. Verzweifelter hat niemand beim Verlust seiner treu ergebenen Bediensteten in den wolkenlosen Himmel geschaut. O’Toole gab den Offizier im Beduinengewand nicht nur als britischen Beau mit irisierend blauen Blick, sondern auch mit für die damalige Zeit erstaunlich offenen homoerotischen Anspielungen. Am deutlichsten tritt dies zu Tage, wenn sein Prinzenfreund Ali (Omar Sharif) ihn nach gewonnener Schlacht mit „Blumen für den Mann“ krönt - und O`Toole in femininer Manier am Strand entlangstolziert. Ein boshafter Kritiker sagte damals, es habe nicht viel daran gefehlt, den Film „Florence of Arabia“ zu nennen. O’Tooles kongenialer Interpretation des exaltierten Visionärs T. E. Lawrence tat das keinen Abbruch. Für seine alles und jeden überragende Leistung im mit zahlreichen Stars und 10.000 Statisten gespickten 222minütigen Historienfilm, der damals unglaubliche 15 Millionen Dollar kostete (entspricht anno 2002 ca. 90 Millionen Dollar), erhielt er seine erste von insgesamt sieben Oscar-Nominierungen als bester Hauptdarsteller.
Die nächste sollte sogleich folgen: Als hedonistisch-unflätiger König Heinrich II., der von 1154 bis 1189 regierte, lieferte er sich mit seinem vom Kanzler zum Erzbischof ernannten ehemaligen Jagd- und Tischgesellschafter „Becket“ (Richard Burton) ein packendes Duell um die „Ehre Gottes“. Regisseur Peter Glenville zog 1963 bei der Umsetzung von Jean Anouilhs zeitlosem Abgesang auf eine (Männer-)Freundschaft alle inszenatorischen Register. O’Toole selbst bezeichnete die Dreharbeiten als die „glücklichsten Tage“ seines Lebens, zumal auch seine Frau Sian Phillips als Heinrich- und Beckets-Gespielin Gwendoline mitwirkte. Nach „Lord Jim“, dem dritten Meisterwerk mit ernster Thematik in Folge, wandte sich O’Toole im Film dem Komödienfach zu: „Was gibt`s neues, Pussy?“ (1965, Regie: Clive Donner) und „Wie klaut man eine Million?“ (1966, Regie: Wiiliam Wyler) zeigten den (Film-)Junggesellen an der Seite so bezaubernder Damen wie Romy Schneider und Audrey Hepburn. Eine im Wortsinn beängstigend gute Leistung bot O’Toole in „Die Nacht der Generale“ (1967). In Anatol Litvaks aufwändigem Wehrmachts-Krimi, der auf Hans-Helmut Kirsts gleichnamigen Bestseller basiert, spielte er den mit zur Maske erstarrten Gesichtszügen versehenen, schizophrenen Nazi-General Tanz, der während und nach dem Zweiten Weltkrieg drei bestialische Prostituierten-Morde begeht. Am Set gab es eine herzliche Wiederbegnung mit den „Lawrence“-Team-Mitgliedern Sam Spiegel (Produzent), Maurice Jarre (Komponist) und Omar Sharif, der als Major Grau O’Toole des Verbrechens überführen will. Als Heinrich II. wußte O’Toole 1968 in Anthony Harveys „Der Löwe im Winter“ erneut zu überzeugen, ebenso als schüchterner Lehrer im Musical „Goodbye, Mr. Chips“ (1969, Regie: Herbert Ross) und als Adliger, der sich für Jesus Christus hält, in „The Ruling Class“ (1972, Peter Medak).
Nach einer Magen und Darm-Operation hing O’Tooles Leben am seidenen Faden. Der durch die Trinkgelage körperlich ausgemergelte Akteur hatte einiges von seiner gewinnenden Ausstrahlung verloren. Das Mitwirken als durch ein wahres Monster-Makeup verunstalteter Tiberius in der Penthouse-Produktion „Caligula“ (1977), aus der Regisseur Tinto Brass seinen Namen aus dem Vorspann zurückzog, kam einer Wandlung von Paulus in Saulus gleich. Verbürgt ist folgende Ankedote. Während der Dreharbeiten nahm John Gielgud O’Toole zur Seite und fragte unsicher: „Sag Peter, spielen wir in einem Pornofilm mit?“ Von weitaus mehr Substanz war O’Tooles manischer Filmemacher Eli Cross in „Der lange Tod des Stuntman Cameron“ (1979). In den 80er und 90er Jahren setzte der einstige Hauptdarsteller in markanten Nebenrollen Akzente, wobei vor allem sein distinguierter, sehr britischer Privatlehrer in Bernardo Bertuluccis „Der letzte Kaiser“ (1986) in Erinnerung geblieben ist. O’Toole kehrte auch immer wieder zur Bühne zurück, wo er als „Macbeth“ (1980), Professor Higginns in „Pygmalion“ (1987) oder ständig betrunkener Journalist in „Jeffrey Bernard is Unwell“ (1990 und 1999, auch fürs TV verfilmt) zum Publikumsliebling avancierte. 2002 begann der dreifache Golden-Globe-Gewinner mit den Dreharbeiten zu „The Final Curtain“. Der hagere Ire verkörpert diesmal einen Fernseh-Showmaster, der sich mit einem Nachwuchstalent einen regelrechten Zweikampf liefert.
Auch privat verlief O’Tooles Leben turbulent: Nach der Scheidung von Sian Phillips (aus der Ehe stammen die Töchter Kate und Patricia, die beide Schauspielerinnen wurden), war er mit dem ehemaligen Fotomodel Karen Sommerville liiert. Um das Sorgerecht für seinen aus dieser Beziehung stammenden Sohn Lorcan führte er 1988 einen ebenso erfolgreichen wie spektakulären Prozess. Seit 1991 lebt O’Toole in London - hier entstand seine vielbeachtete, zweibändige Autobiografie „Loitering with Intent“, in der er ausschließlich über Kindheit, Jugend und Theateranfänge schrieb. Der exzentrische Mime, der von sich sagt, nicht er sei verrückt, aber er glaube, alle anderen seien es, ist bis heute ein Grenzgänger geblieben, der auf dem schmalen Grat zwischen Pathos und Melancholie, Lebenslust und Seelenpein wandelt. Ob als abgründiger Edelmensch, liebenswerter Weltfremdling oder schillernder Monarch, „Peter der Große“ hat all seinen Rollen seinen unverkennbaren Stempel aufgedrückt.