Sensibler Übermensch


Unvergessen: Raimund Harmstorf als „Seewolf“


Von Marc Hairapetian

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„Warum haben Sie nichts Großes auf dieser Welt vollbracht?“, fragt der von Edward Meeks verkörperte schwächliche Schöngeist Humphrey van Weyden in einem Anfall von Mut seinen amoralischen Widersacher Wolf Larsen (Raimund Harmstorf): „Mit Ihrer ungewöhnlichen Kraft hätten Sie alles erreichen können. Ohne Gewissen - Sie haben doch keines -, ohne moralische Hemmungen hätten Sie die ganze Welt unterwerfen können und sie beherrschen. Stattdessen sind Sie – und Sie stehen auf der Höhe ihres Lebens – nur der Kapitän eines Schoners.“ Macho Harmstorf zündet sich hingefläzt auf seinem Kajütenbett, ein Zigarillo an, die Augen funkeln böse: „Hump, mein Fehler war, dass ich je ein Buch aufgeschlagen habe.“

Das waren Zeiten als das ZDF nicht die trivialen TV-Movies der Privatsender kopierte, sondern auf spannungsgeladene Weltliteraturverfilmungen mit philosophischem Zündstoff setzte! Advent anno 1971 flimmerte mit traumhaften Einschaltquoten der Vierteiler „Der Seewolf“ nach Jack London über den Bildschirm. Heute reißen die Fans den Händlern die zum Jahreswechsel 2004/2005 bei Concorde erschienene DVD aus den Regalen. Der Kult hat mehrere Gründe: Der 1991 verstorbene Drehbuchautor, Produzent und Pionier der legendären Adventsvierteiler Walter Ulbrich, der in europäischer Koproduktion die großen Stoffe (u. a. „Die Schatzinsel“, „Die Lederstrumpf-Erzählungen“ und ebenfalls mit Harmstorf in der Titelrolle „Michail Strogoff“) für die Mainzer realisierte, verwob auf kongeniale Weise den „Seewolf“-Roman mit weiteren Geschichten Jack Londons wie „Joe unter den Piraten“, „Abenteurer des Schienenstrangs“, „Die Liebe zum Leben“ und „Ein Sohn der Sonne“. Einzigartig exotische locations fand Ulbrich in der schwedischen Tundra und in Rumänien. Regie ließ er Altmeister Wolfgang Staudte führen, mit dem er bereits bei der UFA „Unter den Brücken“ gedreht hatte. Der brutal-poetische Soundtrack stammte aus der Feder des unvergessenen Komponisten Hans Posegga („Die Sendung mit der Maus“, „Lockruf des Goldes“). Im Gegensatz zu früher setze Ulbrich auf unverbrauchte Gesichter: Am bekanntesten war dem Publikum noch der Amerikaner Edward Meeks durch die Fernsehserie „Globetrotter“. Der am 7. Oktober 1939 in Hamburg geborene vollbärtige Titelheld Raimund Harmstorf dagegen hatte zwar unter Gustaf Gründgens schon in „Faust II“ den Valentin am Theater und in Wolfgang Beckers TV-Straßenfeger „Babeck“ einen glattrasierten Killer gespielt, doch eine Fernseh- oder Filmhauptrolle wurde ihm bislang nicht anvertraut. Seine physische Präsenz – Größe 189 Meter, Brustumfang 107, Taille 78 und Bizeps 40 Zentimeter – prädestinierte ihn endlich für den Part des gewalttätigen Kapitäns Larsen, der nach Nietzsches und Darwins Übermensch- und Selektionstheorien handelt. Doch der ehemalige Zehnkämpfer und Medizinstudent war weit mehr als ein Kraftmensch, der (präparierten) Flaschen die Hälse oder (gargekochte) Kartoffeln zerquetschte. Unter Staudtes Regie verlieh Harmstorf Larsen überzeugend menschliche Züge. „An diesem Rollenprofil hätte man weiter feilen müssen, dann wäre er ein Weltstar geworden.“, sagt Peter Kock, der 20jährig den gegen Larsen aufbegehrenden Matrosen Leach spielte und heute als Professor an der Berliner Universität der Künste in den Sektionen „Darstellende Kunst“ und „Cabaret/Show“ doziert.

Harmstorf, brüstete sich mit über 1000 Frauen geschlafen zu haben, doch hinter der rauen Schale gab es einen weichen Kern Wer ihn in Interviews erleben durfte, weiß das. „Ich bin nur rücksichtslos gegenüber Ungerechtigkeiten.“, sinnierte Harmstorf, als ihn während der Dreharbeiten zum „Seewolf“ die Nachricht vom Tod der Mutter ereilte. „Ich bin kein harter Mann, wenn ich auch so aussehe.“

Generationen hat er mit seinem Wolf Larsen beeinflusst. Auch Theater- und Fernsehmime Ben Becker widmet sein „Seewolf“-Hörbuch dem Mann, der nach seiner „Traumrolle“ international neben Charlton Heston („Ruf der Wildnis“) und Franco Nero („Wolfsblut“) agierte. Mit dem „Seewolf“ wurde er aber fortan identifiziert. Er selbst charakterisierte den Part einmal treffend: „Dieser Wolf ist fast ein Übermensch, ein Tier von Mann. Intelligent, aber auf seine ungeheure Kraft vertrauend, von Machtbewusstsein erfüllt, obwohl er erkennen muss, das seine Welt zerbricht.“

Leben und Film liegen oft nah beieinander. Seit 1994 litt das sensible Raubein an Parkinson und durch die Medikamente an Depressionen. Am 3. Mai 1998 verübte er auf seinem Bauernhof in Marktoberdorf im Allgäu Selbstmord – wie einst „Seewolf“-Schöpfer Jack London, der bereits mit 40 Jahren des irdischen Daseins überdrüssig war (es gibt allerdings auch Quellen, die ein Nierenversagen für die Todesursache verantwortlich machen). Mitursache für Harmstorfs Freitod könnten Berichte der BILD-Zeitung gewesen sein. Bei der zuständigen Staatsanwaltschaft hieß es: „Es liegen Erkenntnisse dahin geltend vor, dass ein Mitauslöser für den Selbstmord in der Medienberichterstattung zu sehen ist.“ BILD widersprach dem zwar, wurde aber später vom Presserat offiziell gerügt. Das machte Harmstorf auch nicht wieder lebendig. Doch Unsterblichkeit verlieh er sich wohl selbst - mit seinem „Seewolf“.

 

Neben dem „Seewolf“ ist jetzt mit „Lockruf des Goldes“ (1975) auch die zweite Jack-London-Adaption des Gespanns Ulbrich/Staudte bei Concorde als DVD mit Bonusmaterial inklusive zusätzlicher Szenen einer verschollen geglaubten Rohschnitt-Fassung erschienen. Marc Hairapetian hat das Kapitel „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ über die Hörspiel-Adaptionen der Abenteuer-Vierteiler im ZDF in der zweiten Auflage des Bildbandes „Seewolf und Co.“ (Oliver Kellner/Ulf Marek, Schwarzkopf und Schwarzkopf, Berlin 2005, Euro 29.80) verfasst.