„Schlechte Nachrichten, das ist wirklich fabelhaft!“

Interview mit Maurice Jarre

Von Marc Hairapetian
Bild: Jarre/Hairapetian (Foto: Froböse)

Erstmals erhielt ein Filmkomponist den Ehrenbären der Berlinale.
Marc Hairapetian traf nach 1993, 1996 und 2000
die lebende Legende Maurice Jarre zum vierten Mal.

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Sie sind in erster Linie für die Stimmungen im Film verantwortlich, spielen als wahre Virtuosen mit den Gefühlen des Publikums, auch wenn im Rampenlicht meist nur die Schauspieler und Regisseure stehen – Filmkomponisten sind dem breiten Publikum eher unbekannt. Nicht so Maurice Jarre, der am 13. September 1924 in Lyon geborene Vater des Synthesizer-Spezialisten Jean Michel Jarre und des Drehbuchautoren Kevin Jarre. Ihm gelang das Kunststück, jeweils einen "Oscar" für drei Meisterwerke von David Lean zu ergattern, zu deren Welterfolgen seine Musiken maßgeblich beitrugen. Wenn man sich daran erinnert, wie Peter O’Toole als "Lawrence von Arabien" verzweifelt versuchte, die untereinander verfeindeten Araberstämme im Kampf gegen die expansionistische Türkei zu einen, hat man sofort das majestätisch-schicksalshafte Wüstenmotiv im Ohr. Jarres "Lara’s Theme" aus "Doktor Schiwago" pfiffen nicht nur die Spatzen von den Dächern; dem Stück wurde in den USA außerdem der "Peoples Choice Award" als "bester Song aller Zeiten" verliehen – noch vor Beethovens "Ode an die Freude" und "Yesterday" von The Beatles. Und der beschwingt-bombastische "Main Title" aus "Reise nach Indien" entsprach genau der Art von Vorhangsmusik, die Lean zu schätzen wusste. Wie kein anderer Filmkomponist besitzt Jarre ein Gespür für das Epische und Monumentale. Gleichermaßen Traditionalist wie Erneuerer, integriert der in Malibu lebende Franzose gerne ungewöhnliche Instrumente und Ethno-Klänge in seine Orchesterpartituren. Dabei fing er erst relativ spät mit dem Komponieren an. Als Sohn eines Rundfunktechnikers aus Lyon sollte er ursprünglich Radioingenieur werden. Mit 16 Jahren änderte Jarre jedoch seine Pläne und verkündete, dass er nach Paris gehen wollte, um fortan als Musiker, Komponist und Dirigent zu wirken: "Ich konnte nicht eine Note auf dem Klavier", erinnerte er sich später, "meine ganze Familie lachte über mich. Eine innere Stimme aber sagte mir, dass dies genau der richtige Weg sei." Am Pariser Konservatorium für Musik begann Jarre seine Studien der Harmonielehre und des Orchestrierens, wobei er bald eine Leidenschaft für Percussion-Instrumente und elektronische Klänge entwickelte. Bereits nach drei Jahren zählte er zu den besten Timpanisten Frankreichs und spielte unter namhaften Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler und Pierre Monteux. Danach arbeitete er mit Pierre Boulez als Teil eines komponierenden Teams für die Jean-Louis Barrault Company. Schließlich holte ihn Jean Vilar 1950 als Musikdirektor an das Théatre National Populaire. Während der nächsten 12 Jahre schrieb und dirigierte er annähernd 60 Stücke für Aufführungen, unter ihnen "Der Prinz von Homburg" mit Gérard Philipe in der Titelrolle, "Macbeth" und "Mord in der Kathedrale". Jarres cineastische Arbeit begann 1952 für Georges Franjus Dokumentation "Der Invalidendom". Weitere filmische Kooperationen mit dem Regisseur des Pariser Nationaltheaters folgten, von denen der Horrorthriller "Augen ohne Gesicht" (1960) wohl die bekannteste ist. Richard Fleischer gewann ihn mit "Drama im Spiegel" (1960) für das internationale Kino. Im Anschluss daran schrieb er den Soundtrack für "Der längste Tag" (1962), bei dem Jarre erstmals sein Können für mitreißende Militärmärsche demonstrierte. Seinen endgültigen Durchbruch erreichte er mit der musikalischen Vertonung eines der größten Meilensteine der Leinwandgeschichte. Dabei sollten ihm zur "Absicherung" für das aufwändige 70mm-Spektakel "Lawrence von Arabien" anfangs zwei weitere Musik-Genies zur Seite gestellt werden. Doch Jarre hatte Glück: "Produzent Sam Spiegel wollte für die arabische Musik den armenischen Komponisten Aram Khachaturian und für die britische den Engländer Benjamin Britten. Ich sollte den Rest machen. Doch Khachaturian erhielt keine Ausreisegenehmigung aus der UdSSR, und Britten war anderweitig verhindert. Zunächst sollte dann noch Richard Rogers einspringen, doch David Lean fand dessen "Liebesthema" für den homophilen Lawrence schrecklich kitschig, und so war ich plötzlich alleiniger Komponist." Unbestritten ist, dass Jarre dabei der Einsatz eines äußerst seltenen Instruments inspirierte: Das 1924 in Frankreich erbaute Onde Martinot sieht zwar wie ein vorsintflutliches Keyboard aus, klingt aber völlig anders als ein Synthesizer. Jarre gebrauchte es vor allem in der Szene, als ein Begleiter aus Lawrences Gefolge in der Wüste verloren geht und die Sonne gnadenlos auf ihn niederbrennt. Wie wenig Vertrauen die Produktionsfirma Columbia damals in den Newcomer setzte, wird deutlich, wenn man sich die Soundtrack-LP jener Zeit ansieht. Als Komponist wird Jarre zwar aufgeführt, doch als Dirigent ist Adrian Boult genannt. Der aber hob den Taktstock für die "Lawrence"-Einspielung keine einzige Sekunde lang, denn Jarre führte das Orchester selbst durch die anspruchsvolle Partitur. Die Arbeit an "Lawrence von Arabien" kostete ihn viel Kraft, so dass er sich später in einem Schweizer Sanatorium erholen musste. Der Lohn für die Mühe: Jarres erster "Oscar". Fast über Nacht avancierte er zum Star unter den Filmkomponisten. Die nicht immer einfache Zusammenarbeit mit Lean wurde 1965 bei "Doktor Schiwago" fortgesetzt. Und wieder fand das Onde Martinot Verwendung, dass nun die klirrende Kälte Russlands zur Zeit der Oktoberevolution musikalisch zum Ausdruck brachte. Beim berühmten "Lara’s Theme" gebot ihm Lean allerdings, der eine erste Fassung "zu traurig" und eine zweite "zu schnell" fand: "Denken sie nicht an Doktor Schiwago und nicht an Russland, sondern an ihre Freundin." Nachdem Jarre sich das Wochenende frei genommen hatte, fand er das Lara-Thema in nur einer Stunde. "Doktor Schiwago" wurde nicht nur einer der größten Kassenerfolge der 1960er-Jahre, sondern auch der Soundtrack ging in den ersten 24 Monaten zwei Millionen Mal über den Ladentisch. Einen seiner besten Scores schrieb er für Anatole Litvaks "Die Nacht der Generale" (1966/7), bei dem ein traumatischer Walzer den schizophrenen Wehrmachtsgeneral Tanz (erneut Peter O`Toole) charakterisiert. Am Set gab es auch ein Wiedersehen mit Omar Sharif und Produzent Sam Spiegel. Ein musikalisches Porträt der Dekadenz ist sein Beitrag zu Luchino Viscontis Auftakt einer Deutschland-Triologie: Das zugleich romantische und verzerrte "Martin"-Motiv aus "Die Verdammten" (1969) entlarvt den androgynen Filmdebütant Helmut Berger als verdorbensten Spross einer über Leichen gehenden Stahl-Dynastie im Dritten Reich. Kompositionen für Regisseure wie Henri Verneuil ("Le Presidente"), Elia Kazan ("Der letzte Tycoon"), John Frankenheimer ("Der Zug", "Grand Prix"), und Alfred Hitchcock ("Topaz") folgten. Jarre selbst bezeichnete lange die wehmütige Musik zu "Ryans Tochter" (1970) als seine gelungenste Arbeit (im nachfolgenden Interview hat er seine Meinung geändert – der Verfasser). Diese Aussage ist insofern verblüffend, da die von Frederick A. Young großartig fotografierte, in Irland spielende Liebesgeschichte einer sich emanzipierenden Frau Leans einziger kommerzieller Misserfolg war. 14 Jahre sollte es dauern, bis dieser mit "Reise nach Indien" wieder einen Film drehte, der ihm nicht zuletzt dank Jarre zu einem glänzenden Comeback verhalf. Zu Leans Joseph-Conrad-Hommage „Nostromo“, für die sein Stammkomponist schon zahlreiche Ideen entwickelt hatte, kam es leider nicht mehr. 1979 stand Jarre vor einem ganz anderen Problem, als er Volker Schlöndorffs "Blechtrommel"-Adaption musikalisch unterfüttern sollte: Wie instrumentiert man eine Kartoffel? Nachdem er einige Tage über diese ungewöhnliche Aufgabenstellung nachgegrübelt hatte, erinnerte er sich eines Instruments, das in der polnischen Volksmusik eine wichtige Rolle spielt: Das Fujaro, ein Blasinstrument, dessen Töne wie Seifenblasen aufsteigen, brachte "genau den Sound, den ich wollte." Herausforderungen dieser Art meistert Jarre mit Begeisterung. Man denke nur an die elektronische, mit provozierenden Dissonanzen gespickte Musik zum Hollywood-Melodram "Ghost" (1990). Laut eigenem Bekunden verfügt Jarre über kein besonderes Talent für "komische Scores"; deswegen lehnte er den Auftrag von Peter Weir, mit dem er bei "Ein Jahr in der Hölle" (1982), "Der einzige Zeuge" (1985), "Club der toten Dichter" (1989) sowie "Fearless – Jenseits der Angst" (1993) sehr fruchtbar zusammengearbeitet hatte, für "Green Card" (1991) auch ab. Von seinen neueren Arbeiten beeindruckte vor allem das heroische, von tiefstimmigen Eskimo-Chören begleitete Nordpol-Drama "Agaguk/Shadow of a Wolve" (1992), das geschickt Symphonieorchester, Elektronikgewitter und Schlagzeugwirbel miteinander verschmilzt. Ein besonderes Dokument seiner kompositorischen Eleganz war Jarres "Tribute to David Lean", bei dessen Aufführung er das Royal Philharmonic Orchestra dirigierte und sich noch einmal vor seinem 1991 verstorbenen Lieblingsregisseur verneigte. Erst Mitte der 1990er-Jahre wandte sich Jarre ein wenig von der Elektronik ab, um rein sinfonische Musiken wie beispielsweise den mit einem "Golden Globe" gekrönten Score für "A Walk in the Cloud" (1995) zu schreiben. Zu den wenigen ausgesuchten Projekten, die der trotz seines fortgeschrittenen Alters immer noch jugendlich wirkende Maestro in den letzten Jahren seine kompositorische Stimme verlieh, gehört auch István Szabós Chronologie einer ungarischen Familie in "Sunshine – Ein Hauch von Sonnenschein" (1999). Die Kritik war voll des Lobes. So begeisterte sich Mike Rumpf vom Online-Magazin www.filmmusik2000.de: "Sein Leitthema ist ein wunderschönes, von Schubert inspiriertes Klaviermotiv, dass die Grundlage vielfältiger Variationen über die gesamte Musik bildet. So wie sich in der Handlung geschichtliche Ereignisse wiederholen und der Mensch sich als Spielball in ihnen verstrickt, kehrt auch das Leitthema in verschiedenen Verkleidungen zurück." Gemeinsam mit Ennio Morricone zählt Jarre zu den letzten lebenden Filmmusik-Legenden, die für die "Traumfabrik" komponieren, aber auch den europäischen Film nicht vernachlässigen. Seine letzten Arbeiten für Kino („I Dreamed of Africa“, 2000) und TV („Uprising“, 2001) zeigen ihn künstlerisch voll auf der Höhe. In einem halben Jahrhundert Jahren hat Jarre so über 200 Filmmusiken geschrieben, die er privat nur äußerst selten hören mag. Sein Wunschtraum: Kein Soundtrack, "aber ich wäre glücklich, wenn mir ein Klavierkonzert von Mozart eingefallen wäre." Meine erste Begegnung mit Maurice Jarre im Jahr 1993 hat eine „abenteuerliche“ Entstehungsgeschichte: Zusammen mit meiner damaligen Freundin machte ich einen Einkaufsbummel durch das Berliner Kulturkaufhaus FNAC, das es inzwischen leider nicht mehr gibt. In der Filmmusikabteilung drangen pompöse Klänge an unsere Ohren, „Das ist ja ‚Lawrece von Arabien’!“, entfuhr es meiner weiblichen Begleitung praktisch nach dem ersten Ton. „Genau“, murmelte der gerade diverse Arnold-Schwarzenegger-Filmmusik-CDs einsortierende Fachverkäufer, „Maurice Jarre war übrigens vor einer Stunde hier und signierte seine Schallplatten.“ Da die besagte Signierstunde sehr kurzfristig zustande kam und die FNAC-PR-Abteilung sich schwer mit der Verteilung von Pressemitteilungen tat, waren wir im Vorfeld nicht vom Berlin-Aufenthalt eines unserer Lieblingskomponisten informiert. Maurice Jarre wird sicherlich nicht nur mit dem Flugzeug aus Amerika kommen, um ein paar Autogramme zu geben. Bestimmt wird er auch in Berlin übernachten. Also telefonierten wir mit sämtlichen großen Hotels, die für solch einen ehrenwerten Gast in Frage kommen konnten. Schließlich brachten wir heraus, dass Maurice Jarre im Bristol-Kempinski wohnte, aber zurzeit nicht im Hause wäre. Nach kurzer Beratung beschlossen wir Monsieur Jarre eine Nachricht an der Rezeption zu hinterlegen, in der wir ihn um ein Interview ersuchten. Wir wissen bis heute nicht genau, war es der zweiseitige ins französische übersetzte Brief, die letzte Ausgabe des von mir herausgegebenen Magazins SPIRIT – EIN LÄCHELN IM STURM (jetzt auch online unter www.spirit-fanzine.de) oder die rote Rose, die dafür sorgte, dass das Gespräch doch noch zustande kam. Am nächsten morgen klingelte das Telephon jedenfalls kurz vor neun, und am Apparat meldete sich Blue-Box-Promoterin Karin Wirthmann, die uns mitteilte, dass sich Monsieur Jarre sehr über unser „Nachrichtenpaket“ gefreut hätte und gern dem Interview zustimmen würde, wenn wir bereit wären bis 11 Uhr im Bristol-Kempinski zu sein, da sein Flugzeug um 13 Uhr abfliegen würde. Vom jungenhaften Charme des damals 68jährigen konnten wir uns trotz des gewissen Zeitdrucks in der Empfangshalle des Hotels selbst überzeugen. Er brachte es mit seinem blendenden Aussehen gar auf die Rückseite des Spirit-Ein-Lächeln-im-Sturm-Doppelcovers der Edition Nr. 17 (vorne war Schauspieler Oskar Werner abgebildet). Jarre ist nicht nur einer der genialsten Filmkomponisten, sondern auch einer der sympathischsten aller Zeiten – stets Gentleman, bescheiden und humorvoll zugleich sowie von großer Offenheit und Herzlichkeit. Bei unserem zweiten Treffen – anlässlich seines Open-Air-Konzerts vor dem Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt im Sommer 1996 überraschte mich der Maestro zur Begrüßung auf Armenisch: „Inspez es?“ („Wie geht es Dir?“) Er wusste von meiner Herkunft und erzählte mir, dass er eine zeitlang mit einer Armenierin liiert gewesen wäre. Vier Jahre später wiegte Jarre meine Tochter Siranoush als Baby auf dem Arm und machte als großer Hundefreund Bekanntschaft mit meinem Husky-Labrador Hokis. Unvergessen bleibt mir wie er mich spontan an sich drückte, als ich ihm nach seinen Dirigat des mitreißenden Main-Titles von „Die Reise nach Indien“ – diesmal im Konzerthaus am Gendarmenmarkt – gestand, dass ich deswegen Tränen der Freude vergossen hätte. Umso bewegender war unsere Wiederbegegnung nach neun Jahren bei der diesjährigen Berlinale am 11. Februar im Berliner Hotel de Rome. Vorbildlich gealtert, doch noch durch einen Unfall geschwächt und an den Rollstuhl gefesselt und von seiner charmanten, gut 30 Jahre jüngeren Frau Fong F. Khong begleitet, hielt er lange meine Hand, die ich ihm reichte und blätterte dann interessiert in der alten Spirit-Ein-Lächeln-im-Sturm-Edition mit seinem Konterfei, wobei er mir von seinen Begegnungen mit Oskar Werner in den 1960er Jahren, obwohl er für keinen dessen Filme die Musik komponierte, berichtete.



Maurice Jarre: Sehr viel. Filmmusikkomponisten stehen ja oft im Schatten der Öffentlichkeit. Von der alten Generation sind jetzt nur noch Ennio Morricone und ich übrig geblieben. Ich fühle mich sehr geehrt, vor allem deshalb, weil ich mich Berlin durch meine Gastspiele 1996 und zur Jahrtausendwende vor bzw. im Konzerthaus am Gendarmenmarkt sehr verbunden fühle. Ich habe sehr gerne mit dem Deutschen Filmorchester Babelsberg gearbeitet – allesamt ausgezeichnete Musiker. Ich mag Berlin. Diese Stadt ist ständig im Wandel und hält einen jung.

Marc Hairapetian: „Lawrence von Arabien“ ist neben „Doktor Schiwago“ Ihre berühmteste Filmmusik. War es Inspiration oder harte Arbeit, das majestätische und zugleich tragische „Lawrence“-Hauptthema zu komponieren?

Maurice Jarre: Der Film hatte eine sehr große Wirkung auf mich. Es war sehr leicht, denn der Film war so schön. Das Thema von „Lawrence von Arabien“ fand mich, ganz leicht. Das war, als Sam in New York war und ich dachte, dass ich der einzige Komponist sein werde. Später, nach der Krise, hatte ich sehr starke Gefühle in Bezug auf die Instrumentierung, zum Beispiel welche Schlaginstrumente ich verwenden werde und so weiter. Doch danach war es harte Arbeit. Ich stand unter Druck. Ich hatte sechs Wochen für zwei Stunden Musik. Ich überlegte mir, wie ich Musik von zwei Stunden in dieser geringen Zeitspanne fertig stellen könnte. Ich bin immer ein sehr schneller Arbeiter gewesen. Also stellte ich mir einen Stundenplan auf. Fünf Stunden arbeitete ich, 15 Minuten schlief ich. Dann arbeitete ich wieder fünf Stunden und dann schlief ich wieder 15 Minuten. Daraus bestanden die nächsten sechs Wochen meines Lebens. Nur so konnte ich das erreichen, was ich mir vorgenommen hatte. Nach Beendigung der Partitur und der Aufnahme war ich so müde, dass mich Produzenten Sam Spiegel in der Schweiz schickte, damit ich mich richtig erholen konnte. Meine erste Zusammenarbeit mit David Lean war so phantastisch, dass ich für seinen nächsten Film solche Prozedur in Kauf nahm.

Marc Hairapetian: Warum verwendeten Sie elektronische Sounds in „Lawrence von Arabien“, einem Film, der fast ausschließlich in der Wüste spielt?

Maurice Jarre: Wenn wir über Elektronik sprechen, denkt fast jeder und vermutlich auch Sie, weil Sie damals noch nicht geboren waren, an Synthesizer. 1924 entwickelte in Frankreich ein Ingenieur ein frühes elektronisches Element, das er Onde Martinot nannte und welches wie ein vorsintflutliches Keyboard aussieht, aber völlig anders als ein Synthesizer klingt. Ich habe dieses seltene Instrument, welches nur wenige Menschen richtig spielen können - wie die begnadete Engländerin Cynthia Miller - vor allem in der Szene gebraucht, als ein Araber in der Wüste verloren geht und die Sonne gnadenlos auf ihn niederbrennt. Mein Wunsch war es, eine Art Sound der siedenden Sonnenhitze zu kreieren, der einen das Gehirn versengt. Das Onde Martinot habe ich dann noch einmal bei „Doktor Schiwago“ verwendet. Ich denke, dass ich der erste war, der dieses Instrument nach Amerika brachte, lange bevor es Synthesizer gab.

Marc Hairapetian: Stimmt es, dass ursprünglich Aram Khachaturian die erste Wahl David Leans war für die Musik zu „Lawrence von Arabien“ war?

Maurice Jarre: Das stimmt genau so. Das heißt, Sam Spiegel, der Produzent des Filmes, sagte mir: „Maurice, ich möchte drei Komponisten haben, denn ich glaube, dass wird der größte Film aller Zeiten!" Also traf ich mich mit Spiegel in Paris, ich fragte ihn, wer denn die beiden anderen Komponisten sein würden. Zuallererst Khachaturian, er würde die arabische Musik schreiben. Ich überlegte: Khachaturian, ein russischer Armenier, der die arabische Musik schreiben soll (und Jarre zeigt ein nachdenkliches Gesicht). Die britische Militärmusik sollte Benjamin Britten komponieren. Nun, das ist eine vernünftige Wahl. Mir würden sie die dramaturgische Musik auftragen und ich sollte auch alles koordinieren. „Geht in Ordnung!“, sagte ich, „Ich arbeite liebend gerne mit Khachaturian und Britten zusammen.“ Einen Monat später rief mich Spiegel an und setzte an: „Maurice, ich habe schlechte Nachrichten." Khachaturian konnte Russland nicht verlassen, damals gab es noch den Eisernen Vorhang und wir konnten nicht hinreisen. Britten wiederum bat um einen Aufschub von anderthalb Jahren, weil er gerade an etwas anderem arbeitete. „Bad, bad news...“, sagte ich mir (und er reibt sich die Hände), „schlechte Nachrichten, das ist wirklich fabelhaft!“

Marc Hairapetian: Wie ging es dann weiter?

Maurice Jarre: Spiegel teilte mir mit, dass er nach Amerika reisen müsste, doch bei seiner Rückkehr würde er mit mir den Vertrag schließen. Währenddessen schaute ich mir den Film an, das heißt, die Rohfassung, Material von 40 Stunden. Mich überwältigte die Schönheit des Filmes, ich rannte nach Hause in meine Londoner Wohnung und begann mit dem Schreiben der Musik. Dann kehrte Sam Spiegel aus Amerika zurück. Er fiel gleich mit der Tür ins Haus: „Maurice, ich habe gute Neuigkeiten." Gute Neuigkeiten, oh weh! „Oh ja!“, sagte er, er hätte einen Vertrag mit einem amerikanischen Komponisten geschlossen, der schriebe 90% der Filmmusik. Für mich würden somit 10% der Originalmusik übrig bleiben. Ich fand diese Prozedur reichlich seltsam, die Musik eines Filmes aufzuteilen, als würde man Salami schneiden, dies ist für dich und dies ist für dich. Der Komponist sollte Richard Rogers sein, der für seine Arbeit am Broadway bekannt war. Nun aber für einen „Lawrence von Arabien“, besonders nach einem Khachaturian und einem Britten? „Also“, fragte ich, „reise ich dann nach New York oder kommt er für unsere Zusammenarbeit nach London?“ „Nein, nein!“, wiegelte mich Spiegel ab, Rogers würde mir dann beizeiten die Musik nach London schicken. „Aber hatte er denn den Film gesehen?“ „Hat er nicht, brauchte er auch nicht, schließlich hatte er das Buch gelesen, er weiß, worum es geht.“ Unglaublich! Ich hatte das erste Mal mit Spiegel zu tun, mir war das nicht geheuer. Drei Wochen später kamen die musikalischen Themen in London an, da war es September und wir hatten schon den Termin für die Royal Premier, die Vorführung vor der Queen, Anfang Dezember. Spiegel rief mich an, dass die Musik eingetroffen wäre und man sie sich anhören müsste. Gemeinsam, bei der Zusammenkunft würde auch der Regisseur anwesend sein. Bis dahin hatte ich David Lean noch nicht einmal getroffen, ich hatte ihn noch nicht einmal gesehen. Ich bat um einen Pianisten, weil ich selbst nicht sonderlich gut spiele und ich einfach nur zuhören wollte. Der Mann am Klavier spielte das erste Thema (Jarre flötet irgendetwas Nichtssagendes), das sollte das arabische Thema sein. „Huch?“, dachte ich, das sollte die Musik sein? Was kann ich damit machen? Es war offensichtlich, dass diese Musik in keiner Weise zu dem Film passte. Als Zweites folgte das „Love Theme.“ Ich überlegte: „Lawrence von Arabien“ und eine Liebesmelodie? Das ist ja krank, denn schließlich brauchten wir eine Andeutung auf die Homosexualität von Lawrence. Und diese Soße war so schlecht. Der Pianist gab dann Bescheid: und nun folge das britische Militärthema. Er spielte ein, zwei Takte, dann wandte er sich zu uns und spielte, ohne aufs Blatt zu schauen und sprach: „Oh das ist interessant, das ist ein alter britischer Marsch". Dabei hatten wir doch, wie gesagt, nach Originalmusik verlangt. David Lean sprang daraufhin auf und fuhr Spiegel an, dass er so einen Mist sich anhören müsste, welch’ Zeitverschwendung und so weiter. Sam wandte sich zu mir hinüber, ich hätte doch noch nichts geschrieben, oder?! „Doch, habe ich. Ich habe schon etwas von der Musik,“ antwortete ich, aber da er nicht danach verlangt hatte... Ob ich denn etwas vorspielen könnte, fragt er. „Na und ob!“ Ich fing an zu spielen und David Lean stand auf, trat auf mich zu und legte seine Hand auf meine Schulter, ich spüre sie noch heute, und er sprach: „Dieser junge Bursche weiß genau, was ich will". Sam, dessen Gesicht schon zwischen blassrosa und dunkellila jede Farbe angenommen hatte, so sehr war ihm das peinlich, bestätigte das. Ich erzählte, was ich bei den Perkussionsinstrumenten und bei den elektronischen Instrumenten fühlte und ich erzählte, was ich mit dem Onde Martinot vorhabe. Wir brachten dann eigens drei Musiker aus Frankreich rüber, weil dieses Onde Martinot so wenige nur spielen können. Damals kannte keiner dieses elektronische Instrument, wir könnten es auch als den Vorgänger des Synthesizers bezeichnen. Wir verwendeten es in der Szene, in der Lawrence sich in der Wüste verirrt. Also, David Lean war begeistert und ich durfte die Musik zu „Lawrence of Arabien“ ganz alleine schreiben. Ich hatte wie bereits erwähnt sechs Wochen. Soweit meine Geschichte.

Marc Hairapetian: Ist es wahr, dass Sie auch für „Ghandi“ gerne die Musik komponiert hätten?

Maurice Jarre: Ja, aber nur, wenn David Lean den Film gedreht hätte. Ich sollte auch noch die Musik zu dem nicht realisierten „Nostromo“ schreiben, aber die Dreharbeiten mussten aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes eingestellt werden.

Marc Hairapetian: Ihre besten Arbeiten sind Kompositionen zu episch-monumentalen Filmen. Werden Sie auch in Zukunft die Musik zu solchen Filmen schreiben?

Maurice Jarre: Mittlerweile bin ich nicht mehr der jüngste und ein neuer „Lawrence von Arabien“ wäre sehr teuer. So ein künstlerisch hervorragender Film kann nur alle Jahrzehnte einmal gedreht werden. Eine meiner Arbeiten Anfang der 1990er Jahre, „Schatten des Wolfes“, geht ein wenig in die Richtung. Das Sujet ist sehr interessant: ein Thriller, der am Nordpol spielt. Die Eskimo-Tradition spielt darin eine große Rolle. Glücklicherweise wirkten auch noch sehr gute Schauspieler wie der leider mittlerweile verstorbene Toshiro Mifune und Donald Sutherland mit. Aber heute wird mir in der Größenordnung leider nichts mehr angeboten.

Marc Hairapetian: Sie haben sich zum Glück nie kompositorisch auf einen Stil festgelegt. Neben den orchestralen Filmmusiken schrieben Sie auch viele elektronische Scores.

Maurice Jarre: Das hängt unter anderem auch von den Regisseuren ab, für die ich komponiert habe. Als ich das erste Mal mit Peter Weir für „Ein Jahr in der Hölle“ zusammenarbeitete, wollte er eine sehr kalte, elektronische Musik haben. Andererseits bestand er auch darauf, dass ich Elemente indonesischer Volksmusik in die Partitur integrieren sollte. Ich setze elektronische Musik meistens doch ein wenig anders ein, als meine Kollegen. Am liebsten benutze ich Elektronik, um eine Art Kammermusik-Effekt zu erzielen. Ich halte jedenfalls nicht viel vom Overdubs, die häufig die Atmosphäre zerstören. Außerdem versuche ich bei meinen elektronischen Scores stets, Livemusiker zu integrieren, die Akustikpiano oder Ethno-Instrumente spielen. Elektronik ist gut, aber sie kann und sollte auch gegebenenfalls mit dem Orchester vermischt werden.

Marc Hairapetian: Sie besitzen ein Gespür für gute Melodien. Warum haben Sie eigentlich für die romantische Liebesgeschichte „Ghost“ soviel disharmonische Elektronikklänge eingesetzt?

Maurice Jarre: Es ist manchmal durchaus angebracht und auch künstlerisch richtig, ein wenig gegen den Film zu arbeiten. Durch diese kontrapunktische Arbeitsweise versuche ich mehr zum Ausdruck zu bringen, als man in der eigentlichen Szene sieht. Bei „Ghost“ verwendete ich Alex Norths „Unchained Melody“ und veränderte dabei die Stimmung ein wenig... Mir war daran gelegen den Science-fiction-Aspekt herauszuarbeiten. Ich hoffe inständig, dass Hauptdarsteller Patrick Swayze doch noch den Krebs besiegt!

Marc Hairapetian: Hat Ihr Sohn Jean-Michel Jarre eigentlich mit ihrer Hilfe komponieren gelernt?

Maurice Jarre: Nein, er hat sich alles selbst beigebracht. Er brauchte meine Hilfe nicht. Durch die Scheidung von meiner Frau habe ich leider erst spät ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm entwickelt. Jean-Michel Jarre ist mehr an der Interpretation als an der Musik interessiert. Er kreiert eine neue Form von Spektakel mit vielen visuellen Effekten.

Marc Hairapetian: Kam jemals der Gedanke auf, dass Sie mit Ihrem Sohn zusammen an einem Projekt arbeiten würden.

Maurice Jarre: Nein, zu viele Köche verderben den Brei.

Marc Hairapetian: Sie leben seit langer Zeit in Amerika...

Maurice Jarre: Ich ging bereits 1964 nach Amerika, nachdem mich William Wyler gefragt hatte, ob ich nicht die Musik zu „Der Fänger“ machen wollte. Ich sollte sie nicht nur schreiben, sondern auch dirigieren. Ich war sehr glücklich und stolz, dass ich persönlich die alte Hollywoodgarde kennen lernen und bei Columbia einen Vertrag unterzeichnen durfte.

Marc Hairapetian: Würden Sie es heute wieder tun?

Maurice Jarre: Sicherlich, denn ich hatte die Möglichkeit, um die ganze Welt zu reisen, zum Beispiel nach Deutschland, England und Australien. Wäre ich in Frankreich geblieben, wäre das nicht der Fall gewesen. Ich sah und sehe in Amerika einen wirklichen Professionalismus. Die Musiker arbeiten pünktlich und exakt. Eine Session findet um neun Uhr morgens statt. In Frankreich? Undenkbar! In Amerika kommen die Musiker schon eine halbe Stunde vor neun, um sich einzuspielen. Der Sound-Ingenieur kann die Partitur genauso gut lesen, wie der Komponist.

Marc Hairapetian: Sie haben Deutschland bereits mehrfach besucht, unter anderem 1993 um für ihr „Tribute to David Lean“ zu werben, wobei wir uns kennen lernten. Können Sie sich vorstellen, auch einmal längere Zeit hierzulande zu arbeiten

Maurice Jarre: Auch wenn meine Zeit momentan etwas begrenzt ist, hoffe ich doch sehr, dass ich zurückkomme. Es besteht nämlich wieder die Möglichkeit, ein Konzert mit einem Berliner Orchester zu realisieren.

Marc Hairapetian: So wie 1996 und 2000 als Sie vor und im Konzerthaus am Gendarmenmarkt Ihre eigenen Werke dirigierten?

Maurice Jarre: Ja, das wäre ein großer Wunsch von mir. Aber erst einmal muss ich wieder richtig gesund werden.

Marc Hairapetian: Sie möchten also Deutschland aus dem filmmusikalischen Dornröschenschlaf erwecken? Hierzulande finden leider immer noch zu selten Filmmusik-Livekonzerte statt.

Maurice Jarre: Auch dies ist in Amerika anders. Ich nahm dort die Suite zu „Lawrence von Arabien“ auf. Es wurde von symphonischen Orchesterrn in mehr als hundert Aufführungen gespielt, unter anderem vom Cincinatti Symphoy Orchestra. Ich glaube aber schon, dass man das breite Publikum auch in Deutschland für Filmmusik begeistern kann, denn die Leute sind doch schon viel zu oft von den sogenannten „Schreibmaschinenkonzerten“ der Avantgarde-Komponisten eingeschläfert werden.

Marc Hairapetian: Sie haben einen ganz eigenen Stil, aber hören Sie sich die Filmmusiken anderer Komponisten an?

Maurice Jarre: Ich werde ehrlich sein: nein. Ich höre mir normalerweise keine Filmmusik an, Ennio Morricone, mit dem ich befreundet bin, wird es mir verzeihen. Ich lese lieber. Ich lerne Sprachen, exotische Sprachen. Und ich höre klassische Musik: Mozart. Alles von Mozart. Mozart ist phantastisch. Ich finde, mit Mozart kann man den Tag beginnen, wenn man noch gar nicht so richtig aufgewacht ist (er holt tief Luft). Ich kann alles von Mozart hören, seine Klavierkonzerte, seine Geigenkonzerte. Nur wenn man sehr gute Laune hat, wenn man wirklich richtig stark ist, wenn man überzeugt ist, das Leben ist schön, dann kann man Mahler hören (lacht), dann ist man topfit.

Marc Hairapetian: Hören sie auch Popmusik?

Maurice Jarre: Kommt darauf an, ich mag Country und die Volksmusik, ich liebe Johann Strauss. Ich kann es kaum erwarten, das Neujahrskonzert in Wien zu erleben. Jetzt muss ich wieder fast ein ganzes Jahr darauf warten.

Marc Hairapetian: Ist Ihre eigener Lieblingsscore immer noch „Ryan’s Tochter“?

Maurice Jarre: Ich weiß, das habe ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung 1993 erzählt. Damals hegte ich eine besondere Liebe für mein verstoßenes Baby, handelt es sich doch mit der Selbstfindungsgeschichte einer jungen Irin um David Leans einzigen kommerziellen Flop. Doch in den letzten 15 Jahren hat sich meine Meinung geändert: „Lawrence von Arabien“ ist meine Lieblingskomposition, nicht nur, weil ich ihr meinen künstlerischen Durchbruch zu verdanken habe und dieses ohnehin angeregte Gespräch noch lebendiger zu halten. (lacht)




Das Gespräch mit Maurice Jarre führte Spirit-Ein-Lächeln-im-Sturm-Herausgeber (www.spirit-fanzine.de) Marc Hairapetian am 11. Februar 2009 im Berliner Hotel de Rome. Nach einem Wiedersehen mit „Blechtrommel“- und „Die Fälschung“-Regisseur Volker Schlöndorff im Filmhaus am Potsdamer Platz wenige Stunden später, erhielt er einen Tag später als erster Filmmusikkomponist den Golden Ehrenbären der Internationalen Filmfestspiele Berlin im restlos ausverkauften Kino International. Kurz vor der Aufführung von „Lawrence von Arabien“ herzte er das possierliche Tierchen und erhielt standing ovations. Leider zeigte die Berlinale außer diesem Meisterwerk nur noch „Ryan’s Tochter“ in der 7omm-Retrospektive – und keine anderen „Jarre-Filme“, nicht einmal „Doktor Schiwago“, denn diese Produktion wurde einst auf 35mm gedreht und erst danach auf 70mm „aufgeblasen“. Dabei wäre es begrüßenswert gewesen, Jarres andere phantastischen Filmmusiken auf der großen Leinwand wiederzuentdecken.
Maurice Jarre, der Genius der Filmmusik, starb im Alter von 84 Jahren am 29. März 2009 in Los Angeles.