Sehnsucht nach Ganzheit

Sorgenlos leben im Paradies. Kreativität ohne Beschränkung. Ganz sein, Mensch sein. Für Countertenor Andreas Scholl ist Arkadien kein fernes Ideal – er will es hier und jetzt.

von Marc Hairapetian

Ihre neue Platte ist eine Hommage an Arkadien. Was hat es damit auf sich?

Die Komponisten waren eine Gruppe von jungen Männern, die sich „Akademia Arkadia“ nannten. Sie trafen sich jedes Wochenende im Palast eines Kardinales, der eine Art Kultur-Mäzen war, und spielten sich gegenseitig die Kantaten vor,die sie in der Woche komponiert hatten und die alle in und um Arkadien handeln. Händel war übrigens Freund dieser Gruppe und oft zu Gast, wenn er in Rom war. Diese Treffen hatten mehr Ähnlichkeiten mit einer Party, als mit einem Konzert. Die Elemente waren experimentell, die Texte lustig, der ganze Stil war frisch und effektvoll, man merkt, dass diese Männer ihre Freunde und anwesende Frauen bei ihren Zusammenkünften beeindrucken wollten.

Was bedeutet Arkadien für sie, ist es Landschaft oder Symbol?

Arkadien hat drei Ebenen. Zum einen ist es die idyllische Landschaft in Südfrankreich, die sich auch wunderbar als Set für diese Kantaten eignet. Zweitens, auf einer tieferen Ebene, ist es die Sehnsucht des Mensches nach einem paradiesischen Zustand, aus dem er vor Urzeiten vertrieben wurde. Beim Sündenfall in der Genesis, verführte Lucifer (der Lichtbringer ) den Menschen, vom Baum der Erkenntnis, bzw. Selbsterkenntnis zu essen. Daraufhin wurde er auf unfruchtbaren Boden geschickt, wo er fortan schwer arbeiten musste, seitdem war es vorbei mit dem philosophieren und der Selbsterkenntnis. Arkadien nun ist ein unheimlich fruchtbares Land, wo die Früchte prall an den Bäumen hängen und die Hirten, die dort leben, müssen sich keine Sorgen um dem täglichen Lebensunterhalt machen. Arkadien ist deshalb potenzieller paradiesischer Zustand, wo der Mensch, frei von alltäglichen Sorgen, zu sich zurück finden kann. Die dritte Ebene ist eine gnostische Erfahrung, ein Erlebnis, das man nicht in Worte fassen kann, das man Selbst fühlen muss. Es ist Arkadien als innerer Zustand der Selbsterkenntnis und der Erkenntnis des Göttlichen in uns, im christlich-mystischem Sinn. Mit Gott, als unseren Schöpfer ist es wie mit einem Künstler und seinem Werk. Wenn ich etwas schaffe, z.B. eine CD aufnehme, ein Objekt mit meine Kreativität fülle und mich dann davon entferne, wird immer ein Funken meiner selbst darin sein. Ich glaube, dass die Komponisten der Kantaten besonders von dieser dritten Ebene, der Auseinandersetzung mit der eigen Kreativität und Schöpferkraft fasziniert waren und deshalb immer um das Thema „Arkadien“ kreisten.

Wie hat die Beschäftigung mit dieser Thematik Ihre eigene Schöpferkraft beeinflusst?

Wir machen immer den gleichen Fehler: Wir verbringen die meiste Zeit damit uns um die Zukunft zu sorgen und vergessen dabei zu leben, dabei leben wir doch jetzt, in eben diesen Moment. Im Dasein und vor allem im Kreativsein sollte man sich auf den Moment konzentrieren. Als ich noch Musikstudent war, dachte ich z.B. bei einem Vorspiel schon an Phrasen vorher und konnte die Musik nicht genießen. Heute bin ich in der Lage, Musik in dem Moment zu kreieren, in der sie passiert und vorher zu lauschen, wie ein Zuhörer. Das beeinflusst dann auch meinen Gesang.

Was fasziniert Sie am Barock und an der Renaissance und warum glauben Sie, beschäftigt sich die Jugend heute mehr mit diesen Epochen, als z.B. mit der Romantik?

Zeit schafft in der Musik keine Distanz. Es ist nicht so, dass die Musik, die vor zehn Jahren komponiert worden ist, mir näher sein muss, als die, die vor vierhundert Jahren entstand. Dem Empfinden der meisten Menschen nach sind wir jetzt in einem Moment, wo die Sprache, die Melancholie der Renaissance, die Art und Weise, wie über Liebe geredet wird, uns näher ist, als z.B. ein Lied von Schubert. Besonders anziehend an der Musik der Renaissance, besonders für die Jugend ist, dass sie gerade erst wieder neu entdeckt wird. Man trifft also in den Opernhäusern nicht nur auf alt eingesessene Verdi-Kenner, die seit Jahrzehnten ihr Abo nutzen, vielmehr begegnet man einer Vielzahl von neuen und jungen Fans, die diese Gelegenheit auch nutzen, die Schwellenangst zu überwinden und auf den Zug aufspringen.

Sie singen ja Kantaten, die zum Großteil völlig neu entdeckt sind. Wie arbeitet man ohne Referenzen aus historischen Quellen?

Es macht Spaß und ist unheimlich spannend ohne jede Vorgabe herauszufinden, wie der Text gemeint ist, in welcher Weise die Musik gespielt werden soll und die Vorstellung, dass man selbst gerade die erste Vorgabe für zukünftige Interpretationen entstehen lässt.

Die Stimme, in der ein Countertenor singt, ist die höchste männliche Stimmlage, die zu Zeiten Händels, von Kastraten gesungen wurde. Haben sie sich mit diesem Thema, das Schicksal der Kastraten auseinandergesetzt?

Diese Art der Verstümmelung war etwas Furchtbares, Verurteilungswürdiges. Die meisten der Kastraten haben nicht mal überlebt.Was mich aber, abgesehen von diesem Verbrechen, fasziniert, ist die Idee, dass ein Mann hoch singt. Wenn wir uns aus Zwängen lösen, wie z.B. die Vorstellung, dass bestimmte Eigenschaften geschlechterspezifisch sein sollten, machen wir einen Schritt hin zur Ganzheitlichkeit. Dann geht es nicht nur um Mann oder Frau, sondern um die nächste Stufe, um das Mensch sein und die Sehnsucht jedes Menschen komplett zu sein.

Für die Kastraten war diese „Ganzheit“ leider nicht mehr gegeben... Sie meinen aber wohl, wir schränken uns zu oft im Leben ein?

Ja, besonders im Zwischenmenschlichen. Wir sagen z.B. selten, wenn wir jemanden wirklich gern haben, weil wir Angst haben er könnte es falsch verstehen oder wir gehen selten spontan aus uns heraus und folgen unseren Impulsen. Wenn meine kleine Tochter Musik hört, die ihr gefällt, dann tanzt sie dazu und freut sich, wenn andere lachen. Wie oft hören wir schöne Musik und trauen uns nicht, uns dazu zu bewegen, weil wir uns Gedanken machen, was andere denken könnten. Das tun wir viel zu häufig, anstatt der Sehnsucht zu folgen komplett zu sein.

Das Interview führte Marc Hairapetian

Andreas Scholl begibt sich im Januar 2003 auf eine ausgedehnte Gesangstournee, die ihm u.a. am 25. 1. auch nach Berlin führen wird.

Countertenöre sind nicht zu verwechseln mit Kastraten. Sie singen zwar ähnlich hoch, sind aber noch im Vollbesitz ihrer Männlichkeit. Andreas Scholl, geboren am 10. November 1967 in Eltville, begann sein stimmliches Training bei den „Kiedricher Chorbuben“, die auf eine 650jährige Tradition zurückblicken können. Nach dem Stimmbruch war er (auf natürlichem Weg) immer noch in der Lage, Sopran zu singen. In Basel vertierte er an der Schola Cantorum Basiliensis seine Studien, an der seit 2000 selbst lehrt. Innerhalb weniger Jahre etablierte Scholl sich als einer der international gefragtesten Countertenöre. Sein barockes Repertoire reicht von Händel und Bach über Pergolesi bis zu Monteverdi und Vivaldi. Seine Aufnahmen mit namhaften Dirigenten und Orchestern gewannen zahlreiche Preise, u.a. den Echo Classic Award. Im letzten Jahr sang er die Titelrollen in „Solomon“ und „Gilulio Cesare“. Soeben ist die CD „Arcadia“ mit zum Großteil bisher noch nicht eingespielten Werken von Alessandro Scarlatti und Benedetto Marcello erschienen.